Vive la France! Freiheit auf zwei Rädern in der wohl charmantesten Version hat einen Namen: Vélosolex. Mit seinem schlanken, fast filigranen Rohrrahmen, dem ikonischen Motoraufsatz direkt oberhalb des Vorderrads und der charakteristischen Lackierung in Solex-Schwarz ist diese Perle einfach ein absoluter Hingucker. Wir stellen dir in unserem Beitrag den Vergaserhersteller Solex und seine legendären Mofamodelle genauer vor.
Ursprung einer Legende
Die Geschichte des legendären Vélosolex beginnt 1905 in Courbevoie bei Paris, wo die Ingenieure Maurice Goudard und Marcel Mennesson die Société Goudard et Mennesson gründeten. Während sie zunächst Vergaser für Automobile entwickelten – die später in Automobilen von Citroën bis Mercedes weltweit Verwendung fanden – verfolgte Mennesson bereits eine visionäre Idee: die Motorisierung des Velos. Sein 1917 angemeldetes Patent beschrieb eine geniale Konstruktion, bei der ein kleiner Motor vor dem Lenkkopf sitzt und über eine Reibrolle direkt auf den Vorderreifen seine Kraft überträgt – ohne Kette, ohne Riemen, nahezu wartungsfrei.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde diese Vision zur Realität: 1946 erblickte das erste Vélosolex das Licht der Welt. Der verstärkte Stahlrohrrahmen trug einen 45 cm³ Zweitaktmotor mit bescheidenen 0,4 PS, der das Gefährt auf etwa 30 km/h beschleunigte. Mit seinem kompakten Tank hinter dem Motorblock und der charakteristischen „Technik-Nase“ an der Front entstand ein völlig neues Fortbewegungsmittel – weder Velo noch Motorrad, sondern ein praktischer Hybrid aus beiden Fahrzeugklassen, der bei einem sehr wirtschaftlichen Verbrauch von etwa 1,4 Litern auf 100 Kilometer maximale Alltagstauglichkeit bot. Diese einzigartige Verbindung aus Einfachheit, Robustheit und Erschwinglichkeit machte das Vélosolex zum Kultobjekt und schenkte Millionen Menschen ein Stück erschwingliche Mobilität.

Von Antramir – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18970888
Der Reibrollenantrieb – simpel, clever, unverwechselbar
Das charakteristischste Merkmal des Vélosolex ist schon auf den ersten Blick zu erkennen: der kleine Einzylinder-Zweitaktmotor aus eigener Solex-Produktion, der nicht wie üblich im Rahmen sitzt, sondern auf einer Motorhalterung direkt vor dem Lenkkopf, oberhalb der Vorderachse. Von dort führt ein Keilriemen auf die Reibrolle, die unmittelbar auf den Vorderreifen drückt und so den Vortrieb erzeugt. Dieses ungewöhnliche Konzept macht das Vélosolex-Töffli einzigartig. Statt Ketten- oder Riemenantrieb auf das Hinterrad setzt Solex auf eine Lösung, die mit sehr wenigen bewegten Teilen auskommt, einfach zu warten ist und eine unverwechselbare Silhouette prägt. Die Tretkette bleibt zwar erhalten, jedoch ausschliesslich für den Pedalbetrieb: zum Anschieben, als Reserve am Berg oder wenn der Tank leer ist. Im Alltag zeigt sich der Reibrollenantrieb zuverlässig und genügsam. Bei trockener Fahrbahn greift die Rolle sicher, bei Nässe kann sie durchrutschen – kleine Macken, die man dem Vélosolex-Töffli aber gerne verzeiht.
Nasenwärmer & Christenverfolger: Wie das Solex-Mofa zu seinen Kosenamen kam
Ein besonders markantes Detail des Vélosolex ist die Abgasführung. Der kleine Auspufftopf sitzt bei dem Mofa direkt unterhalb des Tanks, von dort führt ein gebogenes Rohr nach vorn, das die Abgase unmittelbar oberhalb des Vorderrads austreten lässt. Die Wärme und der Rauch ziehen dadurch nicht nach hinten, sondern steigen am Fahrer vorbei auf – eine Eigenheit, die bald für wohlwollenden Spott und Charme zugleich sorgte. So entstand in Frankreich der Spitzname „Nasenwärmer“, weil die Abgasfahne bei der Fahrt direkt ins Gesicht zog. Der Ausdruck „Maria-Hilf-Motor“ wiederum hat seinen Ursprung im klösterlichen Alltag: Viele Ordensleute nutzten das Vélosolex als praktisches Dienstfahrzeug. Die Beliebtheit beim Klerus hatte auch einen praktischen Grund, auf den man nicht sofort kommt. Durch die ungewöhnliche Motorpositionierung blieben ihre langen Kutten von Kettenfett und Auspuffgasen verschont – ein Vorteil, der mit einem Augenzwinkern im Spitznamen festgehalten wurde. So setzte sich schliesslich der liebevoll-ironische Begriff „Christenverfolger“ durch. Diese liebevollen Bezeichnungen zeigen, wie sehr sich das Vélosolex-Töffli ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat. Sie machten aus einem funktionalen Alltagsgefährt ein Kultobjekt mit Charakter – unverkennbar, charmant und immer ein wenig eigenwillig.

Von Baykedevries – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=32313719
Schlank, schlicht und zeitlos: Rahmenform und Design
Das Vélosolex trägt von Anfang an die Anmutung eines Velos, doch schon die ersten Prototypen Ende 1941 zeigen, dass hier etwas Neues entsteht. Auf Basis eines Alcyon-Herrenvelos wird der Motorblock oberhalb des Vorderrads angebracht, die Kraftübertragung erfolgt über eine Reibrolle. Am Rahmen selbst verändert sich zunächst wenig – das Solex-Mofa bleibt schlank und vertraut wie ein klassisches Velo.
Mit der ersten Serie von 1946 kommt jedoch eine klarere Form: Der offene Bogenrahmen, bei dem ein Rohr vom Sattelträger bis zum Lenkkopf führt, verleiht dem Töffli einen fast eleganten Schwung. Diese Konstruktion erleichtert zudem den Aufstieg – ein praktischer Vorteil im Alltag. Die Gabel besteht aus ovalem Rohr, der kleine Tank sitzt direkt hinter dem Motorblock. Das Design wirkt klar und reduziert, auf Zierelemente verzichtet der französiche Hersteller lange Jahre fast vollständig. In den folgenden Jahren wird der Rahmen stetig weiterentwickelt, ohne seinen ursprünglichen Charakter zu verlieren. Ab 1947 ist die hintere Radgabel nicht mehr geschweisst, sondern verschraubt – eine unscheinbare, aber wichtige Änderung, die Wartung und Fertigung erleichtert. Mit dem Typ 3300 Mitte der 1960er-Jahre führt Solex schliesslich einen kantigen, fast quadratischen Rahmenquerschnitt ein. Statt Schweissnähten setzt man auf Verschraubungen, wodurch der Rahmen elastischer wird. Auch der Sattel verändert sich: breiter, mit nur noch einer Feder abgestützt. Die Frontlampe folgt ebenfalls der kantigen Formsprache. Beim späteren Modell 3800 erscheinen die Linien wieder etwas runder. Hier setzt Solex erstmals kleine Farbakzente: ein roter Ring am Luftfilter, Weisswandreifen und glänzende Inox-Schutzbleche.

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Modelle & Typen – Technische Entwicklung im Überblick
Damit ist die charakteristische Formensprache gesetzt: schlanker Rohrrahmen, kompakte Technik-Nase und ein Auftritt, der stets zwischen Velo und Töffli balanciert. Wie sich diese technischen Entwicklungen in den verschiedenen Modellreihen – vom frühen 45er bis zum kultigen 3800 – niederschlugen, stellen wir dir nun genauer vor.
Die erste Serie von 1946
Die erste Serie von 1946 legte den Grundstein: ein 45-cm³-Zweitaktmotor mit 0,4 PS, knapp 30 km/h Spitze und ein winziger Tank von nur einem Liter, der dennoch für rund 100 Kilometer reichte. Mit gerade einmal 25 Kilogramm Gewicht gehörte das Ur-Vélosolex zu den leichtesten motorisierten Zweirädern seiner Zeit und war dabei erstaunlich robust.
Praktische Verbesserungen ab 1951
Bereits ab 1951 kamen praktische Verbesserungen hinzu. Ein Hebel am Zylinder erlaubte es, den Motor beim Fahren ohne Antrieb anzuheben, die Radgrösse wurde auf 600 mm reduziert. Gebremst wurde mit Felgenbremsen und über den Dekompressor.

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Mehr Hubraum: das Modell 330 (1953)
Der entscheidende Schritt erfolgte 1953 mit dem Vélosolex 330. Der Hubraum wuchs auf 49 cm³, die Leistung stieg leicht auf 0,5 PS. Die Produktion überschritt erstmals die Marke von 100.000 Stück jährlich – ein klarer Hinweis darauf, dass das Konzept den Nerv der Zeit getroffen hatte.
Technische Neuerungen – die Varianten 1010 und 1700
1957 folgte mit dem Modell 1010 eine überarbeitete Motoreinheit samt Kolben und Zylinder, dazu ein Auspuff in markanter S-Form und ein vergrösserter Luftfilter. Zwei Jahre später brachte der Typ 1700 eine technische Neuerung, die den Alltag spürbar erleichterte: die automatische Fliehkraftkupplung. Sie hielt den Mofa-Motor auch im Stand am Laufen, ein Gebläse sorgte für die notwendige Kühlung. Gleichzeitig wuchs der Tank auf 1,4 Liter – genug, um ohne Nachfüllen ausgedehntere Touren zu unternehmen.

Von A1AA1A — Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=42185880
Das Modell 2200 von 1961
1961 erschien das Vélosolex 2200, das dank entstörter Zündanlage den neuen Vorschriften entsprach und bei dem die Leistung auf 0,7 PS erhöht wurde – ein Plus von rund 40 Prozent gegenüber den Vorgängern. Trotz der gestiegenen Kraft blieb das Solex-Töffli genügsam im Verbrauch und sparsam in der Wartung.

Von Gede, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3803818
Höhepunkt mit Varianten 3300 und 3800
Die Mitte der 1960er-Jahre markierte mit dem Vélosolex 3300 und kurz darauf dem Vélosolex 3800 den Höhepunkt der Entwicklung. Beide Mofa-Modelle setzten auf die bewährte 49-cm³-Basis, der 3800 erreichte rund 30 km/h, blieb sparsam und unkompliziert und wurde mit über zehn Millionen produzierten Exemplaren zum erfolgreichsten Solex überhaupt.

Von Cjp24 — Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=42907448
Neue Optik: der Typ 5000
Anfang der 1970er-Jahre brachte der Typ 5000 frischen Wind in die Baureihe: Kleinere 16-Zoll-Räder, farbige Varianten und Weisswandreifen machten dieses Mofa unverwechselbar. Technisch blieb es bei der vertrauten Motorisierung. Parallel dazu entstand mit dem „Plisolex“ eine klappbare Version, bei der sich Motor und Rahmen in wenigen Handgriffen zerlegen liessen – ein früher Versuch, Mobilität noch flexibler zu machen.
| Modell | Baujahr(e) | Hubraum | Leistung | Besonderheiten |
|---|---|---|---|---|
| Ur-Solex | 1946 | 45 cm³ | 0,4 PS | 1-Liter-Tank, 25 kg leicht, erste Serienproduktion |
| 330 | ab 1953 | 49 cm³ | 0,5 PS | erstmals >100.000 Stück pro Jahr produziert |
| 1010 | ab 1957 | 49 cm³ | 0,5 PS | neuer Auspuff in S-Form, vergrösserter Luftfilter |
| 1700 | ab 1959 | 49 cm³ | 0,5 PS | automatische Fliehkraftkupplung, Tank 1,4 Liter |
| 2200 | ab 1961 | 49 cm³ | 0,7 PS | entstörte Zündung, Leistungssteigerung um 40 % |
| 3300 | ab 1964 | 49 cm³ | 0,5 PS | kantiger Rahmenquerschnitt, kantige Lampe |
| 3800 | ab 1965 | 49 cm³ | 0,5 PS | meistverkauftes Modell, über 10 Mio. Stück |
| 5000 | ab 1971 | 49 cm³ | 0,5 PS | 16-Zoll-Räder, bunte Lackierungen, Weisswandreifen |
Das kleine Töffli, das immer ein Lächeln schenkt
Zahlen und Daten erzählen natürlich nur die halbe Geschichte. Erst im Alltag zeigte sich, weshalb das Vélosolex zu einer Ikone werden konnte. Mit seiner schwachen Motorisierung war es zwar nie ein Renn-Rössli. Aber der geringe Verbrauch machte es ebenso attraktiv wie die unkomplizierte Wartung. Dass dieses Konzept erfolgreich war, belegen die Zahlen eindrücklich: Zwischen 1946 und 1988 entstanden über acht Millionen Solex-Mofas. In den Hochjahren der 1960er-Jahre liefen täglich rund 1.500 Stück vom Band – eine Produktionsleistung, die nur wenige Zweiradmodellen erreichten. Es ist also eine Mischung aus technischer Raffinesse, einzigartigem Design und weiter Verbreitung, die das Solex-Töffli unsterblich macht. Es ist ein rollendes Stück Designgeschichte, ein Symbol für Freiheit im gemächlichen 2-Takt und eine Liebeserklärung an die Idee, dass Einfachheit wunderschön sein kann.
Bildquelle Beitragsbild: Von Luis Miguel Bugallo Sánchez (Lmbuga) – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=18457052





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